[drucken]
Quellenbrief 12 vom 4. Dezember 2020: „Nimm alle Gewalt von dir weg!“
Heute Nacht habe ich mir mal wieder Sorgen gemacht, diesmal um Sabine, meine Frau, die immer wieder schwierige Zeiten mit ihrer 15-jährigen Tochter durchmacht. (Dies schreibe ich mit Zustimmung von Sabine.) Ich weiß nicht, wie es dir geht, wenn du dir über irgendetwas Sorgen machst, aber ich merke das meistens erst, wenn ich im Bett liege und nicht einschlafen kann oder mitten in der Nacht aufwache und versuche, durch Denken zu einer Lösung zu kommen. Bis ich endlich Zuflucht zu meinem Selbst nehme, in dem ich aufstehe und ein schriftliches Gespräch führe.
Dieser Satz berührt mich in meinem Sein. Ich beende ein solches Gespräch zwischen Ich und Selbst erst dann, wenn das Ich ganz zufrieden ist.
Am nächsten Tag machen wir, wie wir das oft tun, eine Aufstellung zu diesem Thema. Die Einzelheiten sind hier nicht wichtig. Wir verkörpern einfach 2 polar erscheinende Gegebenheiten, Kräfte, Personen. In diesem Fall: das Ich und das Selbst, mit dem vorläufigen Namen „telepathische Kommunikation“, für das, was uns an der Selbstqualität interessierte, nämlich das nicht durch die physikalischen Sinne vermittelte Resonanzgeschehen zwischen uns.
Und nach dieser Aufstellung bekommt der Satz des Selbst: „Nimm alle Gewalt von dir weg!“ noch mehr Bedeutung: Wende dich ab von jeder Manipulation anderer oder deiner selbst, sobald du sie bemerkst. Woran merkst du, dass du dich selbst oder andere manipulierst? Vielleicht an Atemlosigkeit im Brustkorb, vielleicht an Sorge oder Angst im Kopf, vielleicht an Unruhe in den Beinen…... Wie immer du es bemerkst, dein Körper zeigt es dir durch irgendetwas Unangenehmes, etwas was sich nicht gut anfühlt. Nimm das als Signal, dich umzuwenden. Ganz konkret körperlich. Wenn du gerade am Schreibtisch sitzt, steh auf und mach einen Schritt vom Schreibtisch weg. Sei neugierig was geschieht. Nimm wahr, was auf dich zukommt. Vielleicht fällt dein Blick auf das Fenster und du machst es auf. Vielleicht auf die Tür und du trittst heraus. Leg dich auf den Teppich, schlag das Buch auf, mach das Buch zu. Du wirst dich unweigerlich in der Präsenz wiederfinden, in der Fülle deines Selbst.
Nimm jede Gewalt von dir weg! Gewalt ist, scheint mir, immer mit unangenehmen Anstrengungen also mit Stress verbunden. Und ich fürchte, Gewalt gegen mich selbst geht immer auch mit Gewalt und Manipulation anderer einher und natürlich ist auch Gewalt nach außen immer auch Gewalt gegen mich. Gerade in dieser Zeit der Coronamaßnahmen erleben wir an uns und anderen, wie leicht wir in diesen Teufelskreis von Gewalt geraten, und wie leicht es auch ist, ihn zu durchbrechen, wenn wir seiner gewahr werden, nämlich durch Präsenz.
Nimm alle Gewalt von dir weg! Es gibt einige Wege dahin: zum Beispiel wenn du es als Gewalt erlebst, dir die Maske über die Nase zu ziehen, mache es spielerisch oder was ganz verrücktes: dreh dich oder die Maske einmal um die eigene Achse und erwarte überrascht das Neue. Oder was wir aus der Aufstellungsarbeit kennen: du betrachtest den Stress, das unangenehme Gefühl, die Angst oder Wut-Gedanken als Projektion oder als Illusion und ziehst sie wie einen Schleier mit einer leichten Handbewegung zur Seite, irgendwohin in die Vergangenheit. Gib dorthin keine Energie – nimm alle Gewalt von dir weg –, nicht einmal mehr Aufmerksamkeit, sondern wende dich um in die Gegenwart und lass dich überraschen. Die Gegenwart ist immer neu. Du wirst unweigerlich überrascht und dankbar sein. Man kann das auch umdrehen: Bedanke dich einfach für das was ist. David Steindl-Rast sagt: „Aus allem, was ist, spricht Gott.“ Du brauchst dich also nur dem, was gerade ist, zuzuwenden und schon fühlst du dich wie im Himmel: beschenkt! Du bist im Leben angekommen. Alles geschieht in Leichtigkeit, in Freude. Alles geschieht im Tanz und völlig ohne Gewalt.
Wir erleben derzeit die Gewalt in einer ungeheuren Polarisierung der Meinungen: die einen sagen: „Vorsicht ist das Gebot der Solidarität.“ Die anderen: „Wir brauchen mehr Mut und angstfreies Handeln.“ Und wenn wir ehrlich sind, dann haben wir beide Meinungen in uns.
Einige von uns waren dabei als wir in Götzis zum 1. Mal einen Tag lang politische Aufstellungen gemacht haben. Das war Anfang 2016, der Höhepunkt der Flüchtlingswelle. Am Ende dieses Tages haben wir dann die beiden Lager aufgestellt mit dem vorläufigen Namen „Gutmenschen“ und „Angstvolle“.
Wir entgehen aber der inneren Gewalt auch, in dem wir bei den Polarisierungen einfach nicht mitmachen. Wissen wir, wie gefährlich das Virus ist? Wissen wir wie gestärkt unser Immunsystem ist? Wissen wir, welche Maßnahmen die besten sind? Kann irgendwer wissen, was die Zukunft bringt? Das einzige was wir sicher wissen ist, dass wir es nicht wissen können!
Mein Zen-Lehrer Richard Baker-Roshi wird nicht müde, auf die Interdependenz aller Vorgänge hinzuweisen, die Verbundenheit aller Kräfte und Dinge, – und Dinge sind in Wirklichkeit auch nur Vorgänge, Geschehnisse, es kommt nur auf die Betrachtungsweise an, wie uns die Quantenphysik lehrt –. Also die wechselseitige millionenfache Abhängigkeit in einem einzigen Zellverband, macht es unmöglich, ernsthaft ein Geschehen auf eine oder wenige Ursachen zurückzuführen. Die Buddhisten nennen deswegen das lineare Denken illusionär oder schlichtweg falsch. Es ist also dumm und ein Irrglaube, – die Christen nennen es „Sünde“ – eine individuelle Erkrankung oder einen sozialen Missstand oder die ökologische Krise der Erde ursächlich auf ein oder wenige frühere Geschehnisse zurückzuführen, um sie besser bekämpfen zu können. Mit diesem illusionären Denken und dieser falschen Wahrnehmung tun wir uns selbst Gewalt im Kopf an. Eine Illusion, die im falschen Denken, im Glauben an Raum und Zeit wurzelt. (Raum und Zeit sind Konzepte, also nützliche Werkzeuge des Denkens und der Welt-Wahrnehmung, aber nicht verbal.) Wirklich realistisches Denken ist nach Baker-Roshi das Gewahrsein der Unvorhersehbarkeit allen Geschehens, das intuitive Gewahrsein der Verbundenheit und Vernetztheit aller Dinge. (Er nennt es suchness, was man mit Selbstheit übersetzen könnte.) Aussteigen aus der Gewalt der Polarisierungen, heißt zugeben, dass wir es nicht wissen können, heißt sich auf das Nichtwissen einzulassen. Wir spüren es ja schon lange, dass wir es nicht wissen, was da vorgeht in uns oder in der Welt. Und wir atmen auf, wenn hin und wieder ein Wissenschaftler oder ein Mediziner ehrlich zugibt, dass er oder sie es nicht weiß, sondern nur hochrechnet und dass die Methode der statistischen Hochrechnung ausschlaggebend für das Ergebnis ist. Und wir beginnen, uns selbst nicht mehr für dumm oder falsch zu halten, wenn wir unsere innere Wahrnehmung von Vorgängen und Personen nicht „Wissen“ sondern „Spüren“ nennen.
Weil es so gut passt füge ich hier ein paar Zeilen von Ute Jungnick aus Kassel bei diese uns gerade vor ein paar Tagen zugeschickt hat.
Geh nicht verloren im Kampf um eine Wahrheit.
Ich grüße euch von Herzen.
Siegfried
|
||