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Quellenbrief Nr. 8, Oktober 2017

Beim Anblick von Flucht, Armut und Leid.

Welche Wunden uns dieser Anblick schlagen kann, und wie diese Wunden heilen.

Als Rabbi Bunam noch ein Holzhändler war und alljährlich auf den Holzmarkt nach Danzig fuhr, hörte er auf der Reise von einem frommen und gelehrten Mann, der in größter Armut lebte. Da lud er sich bei dem Mann als Sabbatgast ein, ließ ihm Geräte und Speisen in das leere Haus bringen und wusste ihm auch noch würdige Kleider aufzunötigen.

Nach dem Sabbat überreichte Rabbi Bunam seinem Gastgeber noch dazu einen ansehnlichen Geldbetrag als Abschiedsgeschenk. Jener weigerte sich, das Geld anzunehmen; er habe schon übergenug empfangen.

«Das andre», sagte Rabbi Bunam, «habe ich nicht Euch, sondern mir gegeben, um die Wunde des Mitleidens, die mir Euer Elend schlug, zu heilen; nun erst kann ich das Gebot des Wohltuns erfüllen. Denn es steht geschrieben: „Nicht empöre sich dein Herz, wenn du gibst.“ Wer den Anblick der Armut nicht ertragen kann, muss sie so lange lindern, bis der Verdruss seines Herzens überwunden und die Wunde des Mitleidens geheilt ist, dann erst vermag er in Wahrheit seinem Mitmenschen wohlzutun. Chassidische Weisheit

 

Die Begegnung mit dem Unglück ist unvermeidlich, aber nicht unvermeidlich ist es, dass wir uns dabei selbst verletzen. Wie kann ich mit dem Leid anderer umgehen, ohne mich entweder selbst zu verwunden oder in Wut oder Apathie zu verhärten? Die Frage ist aktueller denn je, wo wir täglich über die Medien damit konfrontiert werden, wie die Mutter Erde, wie unsere Mitmenschen und wie alle Lebewesen leiden. Viele von euch haben mit mir schon Aufstellungen zu diesem Thema erlebt. Immer geht es darum: Wie kann ich Lebenslust und Weltverantwortung miteinander verbinden?

Seit einiger Zeit kenne ich die Forscherin Tania Singer aus Berlin und Leipzig. Ich habe sie über das Dankbarkeits-Netzwerk und bei den Tagen der Utopie in Vorarlberg kennen gelernt. Sie hat herausgefunden, dass es zweierlei Arten von Mitgefühl geben muss, zwei Arten von Begegnung mit dem Unglück anderer: die eine, uns antrainierte Art – sie nennt sie: "Stress-Empathie" –, aktiviert ein Hirnareal, das auch durch eigene Schmerz- und Leid-Erfahrung aktiviert wird. Das nennt der Rabbi hellsichtig „Wunde des Mitleidens“.

Erfahrene Meditierende, können bei der Vorstellung des gleichen schrecklichen Ereignisses unter dem Hirn-Scanner innerhalb von wenigen Minuten ein völlig anderes Hirnnetzwerk aktivieren. Sie haben gelernt, wahrzunehmen und sich berühren zu lassen, ohne sich zu identifizieren, und vorschnell (in Flucht, Angriff oder Erstarrung) zu reagieren. Dies ist das eigentliche Mitgefühl (compassion), das uns selbst und unseren Mitmenschen wohl tut. Ihr kennt es als die SELBST-Qualität bedingungsloser Liebe, Wahrnehmung und Unterstützung. Sie ist nicht durch Schuldgefühle, durch Rachegedanken oder durch Kompensation eigener Traumata motiviert, sondern eine lebendige und übbare Praxis, eine echte Umprogrammierung des Feedbackzirkels negativer Gedanken, Bilder, Gefühle und Handlungen. (Rick Hanson hat das sehr schön in seinem Buch: "Das Gehirn eines Buddha" dargestellt.) Ein „Bodhisattva“ oder „Heilig“ ist derjenige, der sich mit nichts identifiziert, d.h. das eigene Leiden überwunden hat und sich gleichzeitig geschworen hat, sich nicht eher dem Nirwana (der ewigen Glückseligkeit) hinzugeben, als nicht das letzte Wesen ohne Leiden ist.

 

Tania Singer hat herausgefunden (die Ergebnisse ihrer achtjährigen Forschungsarbeit, an der etwa 20 erfahrene Meditationslehrer beteiligt waren, sind erst ansatzweise veröffentlicht, siehe aber: http://tagederutopie.org/archiv/tage-der-utopie-2015/resource-project-training-fuer-geist-und-herz/), dass für eine signifikante Umprogrammierung zur Zen-Meditation und der Meditation der liebenden Güte aus dem Teravada Buddhismus (ähnlich der Übung der Nächstenliebe im Christentum) die Übung des systemischen Perspektivenwechsels hinzukommen muss. Ihr kennt sie als Praxis der Ich-Selbst-Verkörperung.

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