Siegfried Essen
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Den Platz im Ganzen finden (Siegfried Essen)

Spiritualität in der Aufstellungsarbeit [1]

Sagt nicht, ich wäre ich,
denn ich bin nicht in mir.
Es gibt ein Ich in mir,
weit innen und zugleich jenseits von mir.
Yunus Emre (Sufi-Dichter, 14. Jh.)


Verbundenheit und Getrenntheit, zwei Seiten unserer Natur

Über Spiritualität, das Berührt-Werden vom Sein, kann man nicht wirklich sprechen. Man kann es weder mit Begriffen noch mit Bildern fassen, aber man kann und will und muss davon erzählen, irgendwie darauf hinweisen. Vielleicht ist dazu in erster Linie die Kunst geeignet: Musik, Poesie, Malen, Tanzen; und erst in zweiter Linie die erklärende Sprache. [2]

Heute möchte ich von einer Ich-Selbst-Aufstellung erzählen, die mich berührt hat. Ein paar Worte vorweg: Wir trennen ja in jeder Aufstellung [3] das, was allerengstens zusammengehört, seien es die Teile eines Familiensystems, eines Körpers oder eben das Ich und das Selbst. Aufstellen ist, als ob man Trennung schafft, um Verbundenheit zu erleben. Was ist, wenn man in einer Art Metaaufstellung diese beiden Vorgänge aufstellt: Das Trennen und das Verbinden. Das Ich und das Selbst sind für mich vorläufige Namen für unsere Getrenntheit und unsere Verbundenheit. Vielleicht die zwei elementaren Vorgänge in uns, deren Zusammenspiel alles enthält, was menschliche Existenz beinhaltet.

Maria sucht Ingeborg für ihr Selbst und Sylvia für ihr Ich aus. Kaum aufgestellt und von mir dazu ermutigt, sich einen guten Platz im Ganzen zu suchen, drückt sich das Ich in eine Ecke des Raumes. Das Selbst steht in der Mitte. „Wo sonst?“ denke ich als Zuschauer, belustigt und neugierig zugleich.

Niemand weiß, wie es weitergeht. Die eben erwähnten Bedeutungsgebungen sind ja wirklich nur Andeutungen für ein undurchdringliches Paradox. Eigentlich eine verdeckte Aufstellung. „Ich“ und „Selbst“ als Code-Namen, als Rahmen für ein Geschehen, das in seiner Bedeutung und in seinem Verlauf völlig offen ist. Klar ist nur, dass Marias Ich-Selbst zusammengehört. Es gibt auch keine eindeutige Zielvorstellung, nur die Anweisung für beide: „Such dir deinen guten Platz im Ganzen, und sei frei.“ es gibt aber auf jeden Fall noch als Ressource die Erfahrung der Repräsentantinnen aus früheren Aufstellungen und aus ihrem Leben, nämlich von gleichzeitigem Freisein und Geführtsein.


„Ich halte dich nicht aus. Aber ich muss hin.“

Das Ich hält die Hände vors Gesicht, schaut weg. Das Selbst macht ein paar Schritte auf das Ich zu. Dieses krümmt sich noch mehr in die Ecke und flüstert fast unhörbar: "Komm mir nicht zu nahe." Das Selbst weicht zurück auf seinen Mittelpunkt. Das Ich geht zu Boden. Es braucht eine Ewigkeit, bis es sich wieder rührt. Auch das Selbst lässt sich auf dem Boden nieder und wird ganz still. Offenbar merkt das das Ich und wendet sich langsam dem Raum und dem Selbst wieder zu. Auf allen Vieren und millimeterweise, das Selbst nicht aus den Augen lassend, kriecht das Ich auf das Selbst zu. Das Selbst schaut freundlich, wendet aber den Kopf hin und wieder vom Ich weg und beginnt sich mit sich selbst zu beschäftigen. Plötzlich ruft das Ich, offenbar in höchster Not: „Ich halt das nicht mehr aus. Ich will hin. Aber es wird mir zu heiß..... Ich halte dich nicht aus,.... aber ich muss hin.“ Das Ich wirft einen Überhang weg und bewegt sich wie in Hypnose weiter auf das Selbst zu.

Das Selbst aber, zu meinem blanken Therapeutenentsetzen, schneidet Grimassen und macht Faxen. Vor Schreck fällt mir nichts ein, was ich tun könnte, vielleicht auch verhindern unsere vereinten Schutzengel, dass ich mich einmische. Plötzlich auf halbem Wege zeigt auch das Ich dem Selbst eine lange Nase und schneidet selbst Grimassen, dabei bewegt es sich aber weiter auf das Selbst zu. Das Selbst bleibt einfach sitzen.

Jetzt sitzen sie sich gegenüber und schauen sich ernst und offen in die Augen. Im Zuschauerraum ist es sehr still. Sie sind auf gleicher Höhe. Sie sind gleich. Das Selbst berührt mit einer Hand das Knie des Ich. Das Ich berührt mit einer Hand des Knie des Selbst. Beide Hände finden den Körper des Gegenübers. Die Hände des Ich wandern zu den Schultern des Selbst. Die Arme des Selbst umfangen das Ich. Sie umarmen sich. Aus meiner Perspektive kann ich nur die Hände des Ich beobachten: Seine linke Hand hält das Selbst fest, seine rechte legt sich immer wieder liebevoll und mit der ganzen Handfläche auf den Rücken des Selbst, hält und lässt los, hält und lässt los. Das ist Gegenwärtigkeit, das ist Begegnung, das ist Sehnsucht pur. Vielen von uns kommen die Tränen. Es dauert lange. Dann stehen beide gleichzeitig auf, trennen sich, stehen nebeneinander und beginnen sich umzuschauen. Ihre Gesichter sind weich und strahlend.

Es wird klar, dass dieser Prozess für den Augenblick vollendet ist. Ich bitte Maria aufzustehen und sich auf den Platz des Ich zu begeben und sich die Ich-Wirklichkeit im Spüren und im Schauen einzuverleiben. Nach einer Zeit bitte ich sie, dasselbe auf dem Platz des Selbst zu tun und dann mit dem Kopf zu nicken, wenn sie bereit ist, das Vermächtnis des Ich zu hören. Danach nimmt sie wieder den Platz des Ich ein und hört sich das Vermächtnis des Selbst an.


Der Furcht ins Auge blicken aber der Sehnsucht folgen.

Die Angst vor der Unendlichkeit und gleichzeitig die Sehnsucht nach ihr, ist das nur Marias Problem? Haben nicht die meisten Menschen entschieden, zu glauben, dass uns die Auflösung bevorsteht, wenn wir dem Tod und der Unendlichkeit begegnen? Die meisten speisen aus diesem Glauben ihre Existenzangst.

Was ist aber, wenn Unendlichkeit und Endlichkeit zusammengehören, wenn Schöpfer und Schöpfung einander bedingen und brauchen, wie Ich und Selbst, statt dass das Eine das Andere verschlingt? Was ist, wenn es wie in dieser Aufstellung für unser Ich, unsere endliche Form, immer darum ginge, der Furcht ins Auge zu blicken und der Sehnsucht, aber nicht der Furcht zu folgen, sondern der Sehnsucht, und das volle Risiko der Auflösung, der Verbrennens auf sich zu nehmen? Und irgendwie geschieht das Vergehen des Ich wirklich, aber ebenso wirklich ist auch das Geschenk des körperlichen Erlebens von Begegnung und Liebe und die Entdeckung, dass der strafende oder überwältigende Gott eine Lüge ist.

Und noch eine ewige Wahrheit leuchtet in jeder Aufstellungsarbeit auf, nämlich dass wir in Beziehung leben, ja, dass wir Beziehung sind. Wir sind Schnittpunkte von Begegnung. Eine isolierte Existenz gibt es nicht, ist eine Konstruktion unseres Geistes. Nach jeder miterlebten Aufstellung sind wir in diesem Sinne etwas demütiger.


Sylvia, die das Ich gespielt hat, schrieb mir ein paar Wochen später die folgenden Zeilen:

„Ich schildere dir den für mich wichtigsten Teil in meiner Rolle als Ich: Der Weg zum Selbst bestand aus sehr vielen inneren Kämpfen. Die Albernheit, ja Leichtigkeit des Selbst war für mich peinlich, abstoßend, gefährlich und faszinierend zugleich. Aus der Angst wurde Trauer, denn ich erkannte meinen verleugneten Anteil in diesem Grimassenspiel. Die mahnende Vorsicht stand wie eine Wand zwischen uns, und erst als ich im Hintergrund deine Stimme wahrnahm, die mich daran erinnerte, völlig frei in meiner Entscheidung zu sein, dachte ich: Jetzt oder nie, zurück kann ich ja immer noch.

Von da an schien ich zum Selbst geführt zu werden. Das Gedanken-Karussell blieb einfach stehen, es gab weder Raum noch Zeit. Glückseligkeit durchflutete mich und es gab nur ein Ziel....... Weißt du, diese Rolle übernehmen zu dürfen war für mich ein himmlisches Geschenk, denn noch nie zuvor war die Erfahrung des Geführt-Werdens so intensiv für mich.“


Freisein ist Geführtsein, Geführtsein ist Freisein

Es ist paradox: Die Erlaubnis der Freiheit führt nach Innen, wirft mich auf mich selbst zurück, und das Horchen nach innen, das Gehorchen, erzeugt die Erfahrung des Geführtseins. Freisein ist Geführtsein, Geführtsein ist Freisein, nicht in der Theorie, aber in der konkreten Erfahrung einer authentisch gespielten Rolle. Der Himmel ist kein Ort, sondern ein Erleben. Ich habe eine Aufgabe im Ganzen. Ich spiele für das Ganze eine Rolle. Es geht nicht um den Sieg des Selbst und den Untergang des Ich, sondern um das Erleben von Kongruenz und Einheit beider, die Einheit von Freiheit und Hingabe, von Agens und Kommunio, wie Wilber sagt.

Dieses Übereinstimmen beider wird als Freude oder Glück erlebt, als Stille oder Leersein, als Auflösung oder als Einfachheit, als Liebe oder als Kraft. Eine solche Erfahrung ist immer nährend. Mein Zen-Lehrer Richard Baker-roshi hat neulich gesagt,: „Sorgt dafür, dass alles, was ihr tut, nährend ist.“ Jede Rolle ist für mich inzwischen, wie Sylvia formuliert hat, „ein himmlisches Geschenk“, und das nicht nur in der Aufstellungsarbeit. Aber in der Aufstellungsarbeit ist es besonders leicht, sich „die Freiheit der Kinder Gottes“ zu erlauben. Ich vermute, weil wir da fremde Rollen übernehmen und uns deshalb weniger unserer Identität verpflichtet fühlen, zu deutsch: uns nicht so wichtig nehmen. Das ist Spiel und höchster Ernst zugleich.[4]

Das erinnert mich an einen wunderbaren Vortrag über Versöhnung, den Matthias Varga von Kibéd im Mai in Würzburg gehalten hat. Ich hoffe, er wird veröffentlicht. Er sagte, dass Versöhnung, Hingabe, Glückseligkeit und Ähnliches in vielen alten Traditionen als Gottesnamen bezeichnet werden, weil wir sie nicht machen können. Und er zitierte mal wieder den wunderbaren Satz von Ibn al Arabi: „Es gibt nur zwei Dinge zu tun, das Notwendige und das Unmögliche.“ Wenn uns aber das Unmögliche gelingt, so Matthias, dann sind wir nicht stolz, sondern dankbar. Stolz sind wir nur auf Mittelmäßiges.
Eine Erfahrung ins Licht halten, bis sie leuchtet.

Ich habe daraufhin für mich selbst einmal geschaut, worauf ich stolz bin. Irgend ein Ereignis. Dann habe ich das selbe Ereignis gedreht und gewendet, bis ich dankbar dafür war. So habe ich mit mir selbst narrative Therapie gemacht. Das geht. Und ich versichere euch, es lohnt sich. Es ist, wie wenn man eine Erfahrung in den Himmel hebt. Es leuchtet seither hundert mal so viel. Es nährt. Hebt alle eure Erfahrungen in den Himmel.

Vielleicht ist das auch eine schöne Metapher für Aufstellungen und Therapien überhaupt: Eine dunkle, verschlossene Erfahrung ins Licht heben, um aus narzistischer Kränkung oder Stolz zu Dankbarkeit zu gelangen und Isoliertes wieder mit dem Lebensstrom zu verbinden.

Maria, die Protagonistin dieser Ich-Selbst-Aufstellung, schilderte es jedenfalls genau so. Sie schrieb mir das Folgende auf meine Bitte hin, ohne meine oder irgend eine der anderen Beschreibungen zu kennen. (Sie hat sich wie gewöhnlich vor allem mit dem Ich identifiziert.) Ich zitiere wieder wörtlich:

„Ängstlich und trotzig hocke ich zusammengekauert im hintersten Winkel meiner Höhle. Ich fühle mich ungeliebt, abgeschoben, zurückgestoßen, ausgeklammert, nicht gut genug. Ich bin es nicht würdig im Fluss des Lebens mich zu erfreuen. Alle anderen dürfen es. Ich bin gestrandet und sehe den anderen zu. Gerne würde ich auch mit dabei sein, so sein wie sie. Chaotische Wellengänge von Resignation, Wut, Trauer, Angst, Verzweiflung, Ohnmacht und Selbstablehnung durchziehen mein ganzes Sein. Eine dicke Eisschicht hält mich zusammen.


Ich atme und werde geatmet.

Plötzlich vernehme ich einen unüberhörbaren Klang in meinem Inneren. Er unterscheidet sich deutlich von allen anderen Geräuschen in mir. Er klopft nochmals an. Er beginnt sich zu bewegen, und ich bewege mich - heraus aus dieser Höhle. Auf allen Vieren taste ich mich vorwärts. "Darf ich das eigentlich?", kommt es aus meinem Hinterkopf. Im selben Moment schiebt es mich noch weiter vorwärts. Zweifel verwandelt sich in unbeschreibliche Lust. Die Spannung steigt, der Atem stockt für einen Moment - aber jetzt - jetzt kann ich es vernehmen. Zwei Arme breiten sich vor mir aus, zwei Augen sehen in meine Augen, ein Willkommensgruß berührt mein Herz, bedingungslos öffnet sich ein Schoß, ich tauche ein und versinke in der Tiefe einer unendlichen Geborgenheit. Behütet und genährt spüre ich den Atem der Erde, zwei Hände halten mich bergend und beschützend, tiefste Berührung durchpulst mich. Ich atme und werde geatmet, ich berühre und werde berührt, ich verstehe und werde verstanden, ich öffne mich ganz. Alle Grenzen schmelzen, alle Unterschiede heben sich auf - nun wird es noch mehr - ich kann es kaum fassen - ich richte mich auf - kosmisch göttlicher Strom durchflutet mich und lässt mich eins werden, ganz werden. ICH UND DU - HIMMEL UND ERDE -wunderbar!“

Wenn man bedenkt, dass Maria diese Beschreibung formuliert hat, ohne mit mir oder irgend einer Repräsentantin darüber gesprochen zu haben oder unsere Berichte gelesen zu haben, so fällt die hohe Übereinstimmung in der Wahrnehmung der tiefen inneren Prozesse zwischen Protagonistin und beiden Repräsentantinnen auf, das Phänomen der sog. repräsentierenden Wahrnehmung ist viel untersucht worden hinsichtlich der Wahrnehmung der RepräsentantIn. Ebenso erstaunlich ist die Wahrnehmungsleistung der Protagonistin. Alle mir bekannten Erklärungsversuche, auch die von einem wissenden oder morphogenetischen Feld, gehen auf ein lineares Sender-Medium-Empfänger-Modell zurück und ignorieren damit Verbundenheit und Synchronizität, die Wirklichkeit des Selbst. Was, wenn unsere Wirklichkeit Getrenntheit und Verbundenheit ist? Mit der Einführung eines Mediums schaffen wir die Getrenntheit von Sender und Empfänger, Kausalität und lineares Denken. Aber müssen wir damit unsere fundamentale Einheit gleich leugnen? „Es geht um das Erwachen zu beiden Seiten unserer Natur,“ sagt Ama Samy, auch ein Zen-Lehrer, „der Form und der Leere.“


Ist nonduales Denken wissenschaftsfähig?

Ich bin bisher (unbewusst, was keine Entschuldigung ist) viel zu oft davon ausgegangen, dass die Wahrheit des Einsseins nicht wissenschaftsfähig ist, das nonduale Denken, das nichtbegriffliche, spürende Wahrnehmen, die Annahme von Synchronizität und Nicht-Lokalität.

Die Forscher-Gruppe um Anton Zeilinger hat kürzlich experimentell gezeigt, dass die Veränderung eines Quantums sich augenblicklich auch an einem anderen mit diesem verschränkten, aber räumlich getrennten Quantum zeigt. Da beide Vorgänge völlig synchron und unabhängig von der räumlichen Distanz passieren, gibt es dafür, wie er selbst sagt, keine Erklärung.

Es ist nicht erklärbar, aber experimentierbar. Lassen wir uns also nicht mit Pseudoerklärungen abspeisen, die mit dem Wort Tele anfangen, Teleportation, Telekommunikation, Telepathie usw. oder die mit dem Wort Feld operieren.

Spiritualität ist Erfahrungswissen, auf das man nur in paradoxen Formulierungen, in Geschichten oder in Kunstformen hinweisen kann. Wir fordern auch nicht in unseren Aufstellungen den Glauben an Synchronizität, (Glauben Sie an das wissende Feld? Bitte hier unterschreiben. Unglaube gefährdet Ihre Gesundheit.) sondern wir rechnen mit ihrer Wirklichkeit und lassen sie so geschehen. Die notwendige und unmögliche Folge sind die vielen Wunder, die wir in der Aufstellungsarbeit erleben. Oft kommen wir aus dem Staunen nicht heraus, oder es läuft uns ein Schauer nach dem anderen über den Rücken und wir können es gar nicht fassen. Die alten Mystiker sagen, dass das die beiden gemäßen Reaktionen des Menschen auf die Begegnung mit Gott sind: Staunen und/oder Erschrecken, Entzückung oder Furcht. Und natürlich folgen daraus die Versuche, es zu fassen und zu bezeugen in Worten, Bildern, Bewegungen, Musik usw. Aber nicht gemäß ist es, daraus einen Gottesbeweis zu machen.

Ich möchte uns das Staunen erhalten und lese nun den vierten Bericht des selbigen Aufstellungsgeschehens aus der Sicht der Selbst-Repräsentantin, Ingeborg, vor. (Sie hat meinen Bericht und den der Ich-Repräsentantin gekannt.)


Die Verschmelzung mit dem ICH – unser gemeinsames Ankommen im Hier und Jetzt

„Sowie ich als SELBST aufgestellt war, war mir mein guter Platz,- nämlich im Mittelpunkt des Beziehungsfeldes von ICH und SELBST,- sofort bewusst. Ich ging gleich dort hin, doch da war kein ICH. Was hilft mir als SELBST meine Klarheit, wenn mein Partner, das ICH, nicht da ist. In diesem Moment war meine Selbstherrlichkeit in Frage gesellt. Schuldbewusst machte ich mich auf den Weg, um das ICH zu suchen. Das ICH wollte aber von mir nichts wissen. Nach einem Anfall von Hilflosigkeit erinnerte ich mich wieder an mein ursprüngliches Gefühl meiner Selbstsicherheit. Jetzt hatte ich den Mut, mich ohne das ICH ins Zentrum des Beziehungsfeldes zu stellen.

Ich war mir „todsicher“, dass das ICH seinen Weg zu mir selber finden wird, und so konnte ich mich hemmungslos und ungeniert auf Beziehungsspielchen mit ihm einlassen, ohne noch mit Macht- und Ohnmachtsgefühlen kämpfen zu müssen.

Vielmehr konnte ich nun in der Rolle des SELBST eine „himmlische“ Präsenz im Hier und Jetzt erleben. In dieser Rolle war ich bezüglich unseres Zusammenfindens absichtslos, weil ich eben diese Absicht des Findens selber war. Als SELBST hatte ich für das ICH unendlich viel Zeit, ich war wie in einem ewigen Jetzt. Ich war zu allem bereit, weil ich mich als die Bereitschaft selbst erlebte.

Ich bewertete weder die Handlungen des ICH noch die meinen als SELBST, weil ich mich und das ICH als den Wert schlechthin erlebte. Mein Agieren im Beziehungsfeld war von Freiheit und Unschuld geprägt, weil ich mich wie das Tun in Freiheit und Unschuld schlechthin erlebte. Es gab für mich als SELBST unendlich viele Möglichkeiten, Liebe auszudrücken – ich war wie der permanente Ausdruck von Liebe selbst. Die Verschmelzung mit dem ICH – unser gemeinsames Ankommen im Hier und Jetzt – war von meiner Seite her wohl möglich, weil ich als SELBST das unumschränkte Ja zu Grenze und Endlichkeit hatte. Wie gerne würde ich jeden Tag einmal mit mir selbst eine ICH - SELBST Aufstellung spielen.“ --Warum nicht?
Die auf Heimkehr gerichtete Bewegung

Nach meiner Erfahrung gibt es einen Ablauf, der in fast jeder Ich-Selbst-Aufstellung vom ich durchlaufen wird. Das Ich muss sich scheinbar erst einmal vom Selbst abwenden und irgendwie entfernen, angefeuert durch Emotionen wie Furcht, Ärger, Scham usw. diese Phase gelangt bis zu einem äußerst Punkt, den man Umkehrpunkt nennen könnte. Anscheinend werden hier Sehnsucht und Verbundenheit stärkerer als die Fliehkräfte oder vielmehr bewusster. Im Zusammenspiel mit dem Selbst testet das Ich Freiheit und Verbundenheit. Am Umkehrpunkt ergreift das Ich mit äußerstem Mut und Entschlossenheit seine Freiheit und entscheidet sich für die Rückkehr.[5]

Es folgt „die auf Heimkehr gerichtete Bewegung“, wie Martin Buber es nennt. Zuerst herrscht noch das Gefühl von Mut und Risiko, von Furcht und Zittern. Man schaut misstrauisch und ängstlich zum Selbst und gleich wieder weg. Das Selbst könnte sich wieder in diesen Dämon verwandeln, den man erst produziert, dann mit seinen Gedanken genährt, dann projiziert und gefürchtet hat. Man durchschaut das Spiel, aber um das Gesicht nicht zu verlieren und auch um wirklich sicher zu sein, spielt man es noch ein wenig weiter. Man schaut, man testet, man spürt in sich hinein. Dem Selbst scheint das sehr zu gefallen. Aber dann kommt doch die Phase der eindeutigen Hinbewegung. "Halb zog sie ihn, halb sank er hin." Es endet mit einem Vorgeschmack von Verschmelzung und Befreiung. Woraufhin sich beide wieder nach außen wenden. Auf ein Neues, aber jedes Mal mit etwas mehr Bewusstheit: der Verbundenheit und der gleichzeitigen Freiheit.

Dieser archetypische Ablauf findet sich in unzähligen mystischen und schamanischen Wegbeschreibungen und wird in den Ritualen vieler Traditionen nachvollzogen. Es wird auch deutlich, dass er in seinen emotionalen und körperlichen Ausformungen unendlich viele individuelle Spielarten zulässt. Das geht von Heldenreise, über Seelenrückführung bis Höllenfahrt. Die Rolle des Selbst dabei ist überhaupt nicht einzuordnen bzw vorhersehbar. Manchmal verhält es sich ruhig, freundlich-zugewandt, manchmal spielt es verrückt ganz gegen unsere Vorstellungen. Es nimmt sich oft noch mehr Freiheiten heraus als das Ich, zeigt sich als Narr oder ängstlich-abhängig oder ärgerlich-provozierend, die ganze Palette der menschlichen Persönlichkeit.

Man ist geneigt, das als Agieren zu sehen und der Person der RollenspielerIn zuzuschreiben. Man kann das aber auch anders interpretieren: Das Selbst als Repräsentant von Leere und Bedingungslosigkeit ist die ideale Projektionsfläche für Gefühle, die das Ich gerade durchmacht. Und es stellt sich dafür freiwillig zur Verfügung, es spielt mit. Stellvertretend oder spiegelnd unterstützt es mit Gesten und Bewegungen die Schritte des Ich. Freundlich-erlaubend oder paradox provozierend, aber ohne Gewalt.

Wenn man das Verhalten des Selbst so sieht, braucht man als Leiter weniger einzugreifen, keine Projektionsablösungen zu vollziehen oder gar Personen auszuwechseln. Auf längere Sicht lohnt sich eine solche Zurückhaltung. Das Selbst verhält sich wie die Liebe im ersten Korintherbrief. Es akzeptiert alles, macht alles mit, hält allem stand und fürchtet kein Unglück.


Wir brauchen nichts von aussen, um glücklich zu sein.

Für diese Art der Aufstellungen ist es typisch, dass alle Beteiligten, sowohl Zuseher als auch Repräsentanten, als auch Leiter und selbstverständlich die ProtagonistIn sich genährt fühlen. Die Logik des Nullsummenspiels und das moderne Mangeldenken sind außer Kraft.[6]

Der grundsätzlichste aller Irrtümer von alters her ist die Glaubensvorstellung, dass Gott etwas braucht, d.h. dass Gott bzw. das Leben etwas von uns verlangt, dass wir unfrei sind. Man muss nicht an Gott glauben, um von diesem Konstrukt beeinflusst zu werden. Das Leben in Mangel, Ungenügen oder Sündenbewusstsein hat viele Namen und viele Anhänger. Der Glaube, dass wir etwas brauchen, das Anhaften in Furcht oder Begehren entlarvte schon Buddha als den leiderzeugenden Irrtum des Menschen. Gott oder unsere tiefste Wirklichkeit hat nichts nötig. Unser Selbst braucht nichts, um glücklich zu sein. Es ist die Glückseligkeit selbst. Deshalb verlangt es von nichts und niemandem im Universum irgend etwas.

Ich habe diese Einstellung früher Ressourcenorientierung genannt. Das ist zumindest missverständlich. Wenn wir fordern, an das Gute zu glauben, statt an das Böse, dann sind wir noch auf der selben Ebene des Denkens, dann haben wir nur die Vorzeichen gewechselt. Das Böse lässt sich nicht ausrotten durch sein Gegenteil. Das Mangeldenken wird niemals behoben durch Produktion oder Konsum. Und Heilung ist nicht möglich durch Bekämpfung von Krankheit. Es geht vielmehr um einen Ebenenwechsel im Denken-Wahrnehmen. Und dieses Um-Denken-Wahrnehmen (metanoia, wörtlich übersetzt) geht nicht nur im Kopf vor sich, sondern ist ein ganzheitlicher Vollzug. Ich gebe ein paar Beispiele aus der Aufstellungsarbeit:

1. Aufstellungsarbeit als Intuitionstraining. Die Erlaubnis für die Repräsentanten, von den semantischen Informationen wegzugehen und sich immer mehr der körperlichen Wahrnehmung in der Relation zu den anderen hinzugeben. Ich habe das bei unserer letzten Tagung leibliches Verstehen genannt, subtile, simultane, synästhetische Wahrnehmung und Denken. Da wird metanoia praktiziert.

2. Unterschiede wichtiger nehmen als Inhalte. Sich weniger auf die semantischen Informationen als auf Unterschiede konzentrieren. D.h. mit Buber und Bateson die Beziehungen für wesentlicher halten als die Phänomene. Wir können verstehen, was besser ist, sagt de Shazer, ohne wissen zu müssen, was gut heißt. Semantische Aufstellungsarbeit, die sich an bestimmten wünschenswerten Qualitäten orientiert, ist nur wieder eine weitere verführerische Lösung erster Ordnung und wird zu Recht mit den autoritären Religionen und Therapien verglichen. Syntaktische, prozessorientierte Aufstellungsarbeit ist eine sinnvollere Antwort auf den Fundamentalismus und der damit einhergehenden Angst, denen wir heute an allen Ecken und Enden begegnen.

3. Der Aufstellungsleiter ist nicht so sehr Leiter als vielmehr Gastgeber. Und Gastgebersein ist eine sakrale Funktion. Ich zitiere dazu Matthias aus seinem Würzburger Vortrag: „In dem Maße, wie ich Aufstellungen leite, beschädige ich den Prozess“. Als Gastgeber ist man Regisseur und Diener, Lehrer und Schüler, man ist draußen und drinnen, man sieht und verharrt im Handeln durch Nicht-Handeln,[7] man verlangt das Unmögliche und lässt gleichzeitig bedingungslos frei.[8]

4. Beabsichtigen und Absichtslosigkeit. Da geht es nicht um Beliebigkeit, sondern um das Beabsichtigen und Wünschen mit aller Kraft, die intensive Zielarbeit, und doch dann so etwas wie das Fallenlassen der Absicht, das Vergessen des Zieles, das vertrauensvolle Abgeben einer Bestellung ans Universum. Anders ausgedrückt: Ein Bewusstsein davon haben, dass wir das Unmögliche wollen, das nicht Machbare, und in diesem Bewusstsein alle Anstrengungen machen, es zu erreichen. Was wir erfahren ist dann immer ein Geschenk.

5. Ich finde erst einen guten Platz im Ganzen, wenn alle einen guten Platz haben. Diese Realisierung oder Befreiung ist nicht möglich auf Kosten der anderen. Hier wird das Mangeldenken falsifiziert. Bei der Verwirklichung einer Rolle geht es immer darum, seinen Platz im Ganzen zu finden. Seine Aufgabe für das Ganze, die wichtig ist, aber nicht alles. Alle anderen sind ebenso wichtig und zwar wirklich alle. Wir erreichen einen guten Platz im System erst, wenn alle anderen auch einen guten Platz haben. Das ist wahrzunehmen. Seine Rolle mitten unter den anderen ganz auszufüllen, das ist Vollkommenheit, das ist der Himmel.

6. Unsere Seele dehnt sich aus, wie das Universum. „Das Himmelreich ist mitten unter euch,“ hat Jesus gesagt. Verwirklichung des Zukünftigen in der Gegenwart. Keine Angst, da bleibt noch immer genug Spannung und Potenzialität. Wir brauchen dem Mangeldenken nicht den kleinsten Finger zu reichen, um Entwicklung zu gewährleisten. Das Himmelreich, das seinen Namen verdient, ist in Bewegung. Unsere Seele dehnt sich aus, wie das Universum. Das ist unser Wesen. Natürlich stoßen wir dabei immer wieder an Grenzen und es entsteht Angst. Oder wir erleben die Befreiung nicht mehr als ruhige Ausdehnung, sondern als Explosion. All das gehört dazu, zu unserer und Gottes Selbstschöpfung, zum autopoietischen Prozess des Lebens. Dem Schicksal zustimmen, die eigene Rolle ganz ausfüllen, das ist es, mehr nicht. Ganz egal auf welcher Bühne, in welcher Szene oder in welcher Familie. Wir sind das, was wir erschaffen, schwindelerregend frei. Da gibt es keinen Dirigenten von Außen und keine vorgeschriebene oder beste Richtung. Da ist alles, was geschieht, neu. Das geht von Transformation zu Integration zu neuer Transformation, wie Ken Wilber sagt. Und das macht selbstverständlich Angst.

7. Die Ausdehnung der Seele ist ohne Ende. Es handelt sich meines Erachtens um einen unendlichen Prozess, der nicht aufhört mit der Erleuchtung oder dem integralen Bewusstsein. Das wäre ja wieder eine Endlösung. Aber mit integralem Bewusstsein meinen Jean Gebser und Ken Wilber wohl dies: Das bewusste Einstimmen in die nicht endende, zeit- und raum-transzendierende Ausdehnung der Schöpfung in uns und um uns. Nebenbei: Das mahayana-buddhistische Wort Shunyata, meist mit Leerheit übersetzt, bedeutet sowohl das Hohle als auch das wie ein Mutterleib Schwellende. Und auch die Wurzel des hinduistischen Wortes Brahman, die letzte allumfassende Wirklichkeit, bezeichnet das, was wächst, atmet und schwillt. (Loy S.79)

 

Die Mutter gehört ins Herz und nicht auf den Buckel.

Nach soviel Freiheit und Selbstschöpfung kommt sicher die Frage: Was ist mit den Ordnungen? Muss man sich denen nicht fügen? Begrenzen die Ordnungen, die sog. natürlichen sozialen Gesetze, auf die unser Gewissen hinweist, wenn wir sie übertreten, nicht unsere Freiheit? "Du sollst Vater und Mutter ehren," heißt es. Tu’ das, z.B. in dem du dich vor deiner Mutter verbeugst. Aber dann dreh dich um und sei frei. So erfüllt man das Gesetz und nicht, indem man sein Leben lang gebeugt stehen bleibt. Das nennt man Verstrickung, nicht Erfüllung; oder Geistesgestörtheit, oder einfach Dummheit. Die Mutter gehört ins Herz und nicht auf den Buckel. Das ist der ganz normaler Vorgang der Ablösung, den man manchmal in einer Aufstellung nachvollziehen muss, nicht weil das so schön ist, sondern zur Befreiung.

Oft bleibt man in Aufstellungsarbeiten viel zu lange nach hinten gewandt, wühlt detektivisch herum bis zu den Urgroßeltern und könnte sich doch längst umdrehen und die Toten ihre Toten begraben lassen. Man müsste es nur ausprobieren und spüren, ob es getan ist und sich gut und kräftigend anfühlt im Rücken. Es entstehen auch in der Aufstellungs-Tradition verschiedene Süchte. Es fällt ja auch niemandem ein, ständig an der linke Seite seines älteren Bruders herumzulaufen. Die Ordnungen und Gesetze gehören erfüllt und fertig. Sie sind für die Befreiung da und nicht umgekehrt.

Genauso ist es mit den anderen Gegebenheiten des Schicksals, deinem konkreten Körper, deinen psychischen und geistigen Grenzen, den positiven und negativen Gegebenheiten deiner Geschichte, dem sog. Karma. Erkenne sie an, stimme zu und wende dich den Möglichkeiten zu, die sich daraus ergeben. "Es gibt nur zwei Dinge zu tun, das Notwendige und das Unmögliche.“ Aber tue es.

Die Chance aller szenischen Arbeit, der Bühnenarbeit, der Aufstellungsarbeit, des Psychodramas, des therapeutischen Theaters ist, dass du was tun kannst. Und diese Chance ist vertan, wenn du diese Rolle nur mechanisch vorschriftsmäßig gespielt hast, d.h. nichts Neues ausprobiert hast. Zeig, dass du lebendig bist und dazugehörst. Freiheit und Hingabe gehören zusammen. Soviel zum Thema Ordnungen, Karma und Gewissen.[9] Spiritualität ist Befreiung, und Aufstellungsarbeit ist Befreiungs-Praxis, sonst lohnt es sich nicht.


Therapie als Prozess des Überschreitens

Wenn die Aufstellung ins Freisein vorstößt, gelangt sie an die Grenzen der Person und überschreitet sie, vom inneren Selbst bedingungslos unterstützt. Zu einer Aufstellungsarbeit, die sich lohnt, gehört also das Darüberhinaus, der Prozess des Überschreitens, das Sprengen einer Behausung, das Töten eines Buddhas. Dies geschieht nicht dadurch, dass wir bestimmte Instanzen wie das Selbst oder das Darüberhinaus oder ein freies Element oder die Negation des Tetralemmas aufstellen. Das alles ist hilfreich, aber vor allem kommt es darauf an, dass der Leiter in der Haltung der Negation bleibt, sich mitleid- und furchtlos verweigert und so den ihm Anvertrauten alles zumutet und alles zutraut.


"Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies", sagt Rilke, "einander lassen; denn dass wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen“.

Ich habe meinen Vortrag so genannt, wie ich auch manche Aufstellungsseminare nenne: „Den Platz im Ganzen finden“. Zugehörigkeit, so nennt Hellinger das wichtigste Prinzip der Aufstellungsarbeit. Wir könnten auch Nichtgetrenntheit dafür sagen. Die zentraler Einsicht im Christentum und im Buddhismus ist, dass Getrenntheit von untergeordneter Wirklichkeit ist.

Wie gelangt man zu dieser Einsicht, wie gelangt man zum Vertrauen? Indem man seine Anhaftungen, Identifikationen und Verstrickungen als selbstgemacht und als Irrtümer durchschaut und sich von ihnen löst. Nichts anderes tun wir in der Aufstellungsarbeit. Schon von Anfang an. Allein indem wir das Zusammengehörige trennen, das Ganze in Teilen repräsentieren, tritt die ganze Spannung des Lebens in Erscheinung. Das sprengt selbstschöpferisch alle Fesseln, die sich eingeschlichen haben. Nicht erst die Repräsentation des Ausgeschlossenen ist der Coup der Aufstellungsarbeit, sondern schon die einfache Unterscheidung der Teile einer Ganzheit und das freie Spiel damit, als wäre die unsichtbare Zusammengehörigkeit das Selbstverständlichste und Verlässlichste von der Welt.


Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

„Triff eine Unterscheidung", „draw a distinction“( S.3), so lautet die erste Handlungsanweisung in Spencer-Brown’s Buch: „Laws of Form“, in dem er sich mit dem Zusammenhang von Leere und Form beschäftigt. Das Buch beginnt mit dem merkwürdigen und äußerst paradoxen Satz: „Distinction is perfekt continence“(S.1). Man kann diesen Satz übersetzen Unterscheidung ist vollzogener Zusammenhang, oder: Unterscheidung ist vollkommener Zusammenhang. Leere ist Form, Form ist Leere. Ich und Selbst sind unterschieden, aber nicht getrennt.

Ohne Unterscheidung, so Spencer-Brown, kann man auf nichts hinweisen. Die Ganzheit erfährt sich selbst im Spiel der Unterscheidungen. Meister Ekkehart: „Die Seele wirft ein Bild aus sich heraus, um sich darin zu erfahren.“ Das Selbst erfährt sich in seiner Verkörperung, dem Ich. In der materiellen Schöpfung wird sich Gott seiner selbst bewusst. Das ist Praxis der Unterscheidung. Etwas ganz anderes als der leiderzeugende Glaube an die Getrenntheit.

So wirkt Aufstellungsarbeit durch ihre autopoietische Tiefenstruktur nicht nur heilend, sondern auch bewusstseinserweiternd.

 

Literatur:

Essen, Siegfried (2001): Die Ordnungen und die Intuition. in: G.Weber (Hg.): Derselbe Wind lässt viele Drachen steigen. Heidelberg 98-111
Essen, Siegfried (2003a): Systemische Weltsicht und Bibliodrama. Schenefeld (EB-Verlag)
Essen, Siegfried (2003b): Autopoietische Aufstellungsarbeit. In: Praxis der Systemaufstellung 2/2003 S.34-39
Gronemeyer, Marianne (2002): Die Macht der Bedürfnisse, Überfluss und Knappheit. Darmstadt (Wiss. Buchges.)
Loy, David (1988): Nondualität. Frankfurt/M. (Krüger)
Sparrer, Insa (2001) Wunder, Lösung und System. Heidelberg (Carl-Auer-Systeme)
Spencer-Brown, George (1969): Laws of Form. London (George Allen and Unwin LTD)


 [1] Ein Vortrag, erschienen in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/2004, S. 66-77


[2] Die Bibel besteht fast nur aus ganz subjektiven Erzählungen von oder Handlungsanweisungen für die Begegnung mit der tiefsten Wirklichkeit. Darum herum ranken sich dann die Interpretationen. Die narrativen Theorien lehren uns, wie wichtig es ist, Erzählungen oder Handlungsanweisungen nicht mit Definitionen zu verwechseln.

[3] Das „Aufstellen“ von Systemen, wie ich es betreibe, stammt vor allem aus der Skulpturarbeit Virginia Satirs, aus dem Familienstellen Bert Hellingers und aus der Theaterarbeit, speziell dem Bibliodrama. Ein Protagonist wählt aus einer Gruppe für Teile eines inneren Systems Rollenspieler aus und stellt sie intuitiv in den Raum und zueinander. Von da ab machen sie die Erfahrungen der betreffenden Systemteile und können sie zu Bewusstsein bringen. Dass systemische Aufstellungsarbeit wirkt ist unumstritten. Aber was die Wirkfaktoren sind, steht zur Diskussion: M.E. vor allem Verkörperung, Externalisierung und Repräsentation.

[4] Ich kann das hier nur andeuten. Im Bibliodrama-Buch (Essen, S. 2003a) habe ich das Thema Authentizität und Spiel ausführlicher behandelt.

[5] Eine andere Entscheidung gibt es nicht. Das klingt paradox aber die Alternative wäre ein weiterdriften in Ängste und Abhängigkeitsgefühle. Der Appell an die Freiheit ist eigentlich das Bewusstmachen dieser selbstzerstörerischen Bewegung, und sich ihrer bewusst werden heißt, sie beenden und umkehren.

[6] Die Soziologin Marianne Gronemeyer hat in ihrem Buch: „Die Macht der Bedürfnisse“ das Knappheitsdenken als den grundsätzlichen Irrtum unserer Gesellschaft beschrieben.

[7] Wenn der Leiter sich einmischt, schafft er der gerade sich entwickelnden lebendigen und sich ausweitenden Ganzheit eine Außengrenze, einen impliziten Kontext, macht sie zum Teil. Das können die Repräsentanten als autoritär d.h. das Einschränkung oder umgekehrt als Unterstützung ihrer selbstschöpferischen Tätigkeit nehmen.

[8] In den verdeckten oder codierten Aufstellungen wird ernst genommen, was für alle Aufstellungen gilt: Die Namen der Rollen sind vorläufig, Codenamen für Energien in Bewegung, manchmal in redundanten Mustern gefangen, aber niemals per Definition zu fassen, aber mit Körper, Seele und Geist zu realisieren. Neuschöpfung.

[9] Dazu ausführlicher: S. Essen: Die Ordnungen und die Intuition. (2001)

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