Siegfried Essen
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Systemische Therapie als Praxis des Nichtanhaftens

Über die spirituelle Dimension der systemischen Familientherapie unter Berücksichtigung buddhistischer Terminologie

Siegfried Essen/Vortrag vom 3.10.1992 am 1. Symposium für Psychotherapie und Buddhismus in Wien.
© Z.system.Ther. Jg.11, Jan. 1993 S. 32–38


Zusammenfassung

Dieser Vortrag wurde im Oktober 92 in Wien vor Buddhisten, Psychotherapeuten und allgemein spirituell interessiertem Publikum gehalten. Dabei hat der Autor versucht, einige der systemischen Therapie zugrunde liegenden Konzepte wie Konstruktivismus, Autopoiese, Lösungsorientierung, Zirkularität usw. in die Begrifflichkeit buddhistischer Praxis zu übersetzen. (Christliche Begriffe wurden wegen der Zusammensetzung des Publikums weitgehend ausgespart). In gewisser Weise wird dadurch rekursiv auch neues Licht auf die systemische Denk- und Arbeitsweise geworfen, die so unspirituell gar nicht ist, wie sie sich manchmal gibt.

Wenn Sie zu einer systemischen Familien-Therapeutin gehen, mit irgendeinem Problem oder Symptom, wird sie Sie mit Fragen überraschen, die Sie wahrscheinlich nicht erwartet haben. Sie wird Sie kaum dazu ermuntern, ausführlicher über Ihr Problem zu reden. Ja, es kann sein, dass Sie die ganze Sitzung über nicht ein einziges Mal auf den Inhalt Ihrer Sorgen, wie Sie sie bisher definiert haben, zu sprechen kommen. Und wenn sie Ihnen doch erlaubt, Ihre bewährten und wohluntermauerten Problemdefinitionen vorzubringen, so wird sie Sie möglicherweise schon bald mit der Frage überraschen, was Sie sich denn wünschen, was Ihr Ziel sei, und so lange nach dem Ziel fragen, bis Sie nur noch Ihr Ziel im Kopf und zudem eine Ahnung davon haben, wie Sie es erreichen können, welche Hindernisse zu erwarten sind, bis hin zu einem genauen Bild von sich selbst, Ihrem Aussehen, Ihrem Sprechen und Tun, Ihrer Körperhaltung usw., wenn Sie am Ziel sind, und welche Auswirkungen das vermutlich auf Ihre Umwelt und Ihre Beziehungen haben wird.

Oder aber, sie wird Sie nach dem Anhören Ihrer Klage respektlos fragen, ob Ihre Schwiegermutter das auch so sieht. Und Ihr Partner Ihre Tochter, und wenn nein, wird sie sich sehr dafür interessieren, wie genau diese das anders sehen, und welche anderen Lösungen sie vorschlagen, so dass Sie auch hier wieder gezwungen sind, das Problem aus anderen Perspektiven zu sehen und sich schließlich mehr mit Lösungen zu beschäftigen als mit dem Problem. Mit anderen Worten, Sie bekommen eine Lektion im Fallenlassen negativer Gedanken und Konditionierungen.

Und wenn Sie erwartet haben, dass Sie nun zusammen die optimale Lösung herausarbeiten, so kann das manchmal geschehen. Aber manchmal scheint nicht einmal dies das Hauptinteresse der Therapeutin zu sein. Denn sie fragt immer weiter nach anderen möglichen Lösungen oder anderen möglichen Perspektiven, so dass Sie nachher vielleicht ganz leer im Kopf aber mit einem Blumenstrauß von Alternativen im Herzen nach Hause gehen.

Manche ziehen natürlich den gut gefüllten Kopf, die zwar Leid erzeugenden aber dafür gewohnten und bequemen Denk-, Fühl- und Handlungsmuster vor und werfen den Blumenstrauß weg. - Blumen sind schließlich äußerst vergänglich. - Manche aber - die Klugen freuen sich an dem Duft der Blumen und wissen, dass sie gerade geübt haben, ein Problem einfach fallen zu lassen. Und dass sie dasselbe mit den Blumen tun können, wenn diese zu stinken anfangen.

Systemische Familientherapie sucht nicht so sehr danach, eine Lösung für das Problem zu erarbeiten, sondern das Lösen von Problemen selbst zu lernen, d.h. das Sich-Lösen. Der Prozess des Loslassens von einer Einstellung, einer Haltung, einer negativen Anhaftung wird eingeübt. Aber nicht, um sich jetzt einer positiven Lösung hinzugeben, sondern zu lernen, dass man Lösungen konstruieren kann wie Probleme. Der Geist ist frei. Gregory Bateson, ein Vater der Familientherapie, nannte das „Lernen 3. Ordnung“ und hat damit m.E. die Brücke zwischen Therapie und Spiritualität formuliert.

Warum erzähle ich Ihnen das? Warum habe ich mich überreden lassen, meine Gedanken aufzuschreiben, mich hier vorne hinzustellen und sie Ihnen vorzutragen? Weil ich das Gefühl habe, dass die systemische Therapie in den letzten Jahren sich ein Denken erarbeitet hat, das dem buddhistischen Wissen von der Herkunft des menschlichen Leidens und seiner Überwindung sehr nahe kommt. Vielleicht glauben das jede Therapeutin und jeder Therapeut von ihrer eigenen Schule, wenn sie sich eingehender und freundlich mit dem Buddhismus beschäftigen. Ich nehme es sogar an, denn das bedeutet ja nichts anderes, als dass sich therapeutische Haltung und religiöse Weltsicht in der Person der Therapeutin gegenseitig unterstützen und bekräftigen.

Ich stütze mich hier auf die sprachlichen Gestaltungen der systemischen Familientherapie, in dem Bewusstsein - und das gehört zum systemischen Denken schon wesenhaft dazu - dass Sprache Wirklichkeit schafft. Das heißt, dass ich dafür verantwortlich bin, wie ich über mich, meine Umwelt, meine Klienten usw. denke und rede. Wir sind also frei und verantwortlich im Denken und im Fühlen. Beides steht in Wechselwirkung zueinander. Und es macht einen Unterschied, ob wir einen Klienten mitfühlend - dass heißt solidarisch - oder mitleidig von oben herab gegenüber sitzen. Die Ursache für Nicht-Solidarität, Nicht-Liebe, Nicht-Freude usw., kurz für alles Leid, wird im Buddhismus im menschlichen Geist gesehen, weil und insofern er ein Ich konstruiert. Mit unseren fortlaufenden Konstruktionen zur Definition, Absicherung und Erhöhung des Ich schaffen wir die Voraussetzung für unser Leid.

Systemische Familientherapeuten berufen sich auf die Philosophen des radikalen und sozialen Konstruktivismus, wenn sie zu ganz ähnlichen Formulierungen kommen.

Sie gehen nicht nur nicht mehr wie Sigmund Freud und auch noch Fritz Perls von einem eher mechanistischen Denkmodell aus, wo man etwa von verdrängten Ängsten oder aufgestauten Aggressionen redet, als wären die Gefühle etwas Substanzhaftes im Einzelnen, das man ablassen müsste.
Welche Umweltverschmutzung! - Sie sagen vielmehr:
Erstens, zum Leid gehört eine bestimmte Form der Wahrnehmung der Welt, eine Perspektive der Verarbeitung von Reizen. Reize, die von außen oder von innen kommen und nichts Leidhaftes an sich haben. Und wenn wir zur Erkenntnis dieser ersten Tatsache kommen, dass wir nicht Opfer, sondern Erschaffende unseres Leidens sind, ist das Meiste getan.
Zweitens sagen wir, dass neurotisches oder psychotisches Leid darin besteht, dass solche Wahrnehmungs-, Denk-, Fühl- und Handlungsmuster ständig wiederholt werden. Irgend ein Reizwort von außen wird einem inneren Bild zugeordnet und damit so interpretiert, dass es bestimmte Gefühle auslöst, die wiederum bestimmte Lösungen zu fordern scheinen, sprich Reaktionen, welche aber garantiert vom Partner so verstanden werden, dass die Sache eskaliert, denn auch der Partner hat meistens ziemlich verlässliche Konditionierungen. In dieser zweiten Tatsache der Wiederholung von Mustern erkennen wir den buddhistischen Begriff des Anhaftens wieder und das Leiderzeugende darin. Im Festhalten von redundanten Denk- und Verhaltensmustern zur Absicherung unserer gewohnten Rolle im System.
Und ich komme sogleich zu einem dritten Punkt über Leid: Ich sehe die Welt und jeden einzelnen Menschen als organismisches System, in dem sich nichts nur zufällig oder auf Grund einer auch nur überschaubaren Anzahl von Ursachen ereignet. Deshalb hat es gar nicht so viel Sinn, das Problem analysieren zu wollen, man würde nur allzu schnell selber zu einer bestimmten Problemdefinition kommen, sie den Klienten überstülpen wollen, um damit wieder nur Lösungen erster Ordnung zu produzieren. Anders gesagt, eine so erarbeitete Lösung wäre der Deckel auf einem Topf, den wir gerade konstruiert haben. Der Klient hat meist seiner Problemsicht die Ehre der Analyse schon übergenug erwiesen. Warum nicht z.B. den Topf anschauen, würdigen und zur Seite stellen, statt immer wieder nach einem Deckel zu suchen? - Das sind dann die Klienten, die zu uns kommen und sagen: „Ich hab' schon das und das probiert und war bei dem Therapeuten und der Therapeutin und nichts hat geholfen.“

Ich möchte ein wenig erklären, was man unter Lösungen 1. und 2. Ordnung in der systemischen Therapie versteht:

Lösung 1. Ordnung ist meist das, was der Klient schon immer probiert hat, um mit einer auftretenden Frustration fertig zu werden. Oft irgendeine verzweifelte Anstrengung. Noch mehr schimpfen, noch mehr nachgeben, noch mehr reden, noch mehr schweigen. Also immer ein „mehr desselben". Meist schafft diese wiederholte Anstrengung überhaupt erst das Leiden, bzw. ist das Leiden. Und das Aufgeben dieser Lösungsversuche wäre dann die Lösung 2. Ordnung, sozusagen die Lösung von der Lösung.

Ein typisches Beispiel für eine Lösung 1. Ordnung, das wahrscheinlich jeder von Ihnen kennt, ist, dass man sich immer mehr anstrengt, um sich in die Meditation oder zum Einschlafen fallen zu lassen, das so genannte „sei-spontan-Paradox".

Eine Lösung 2. Ordnung ist dann eine Art Erlaubnis, die bisherigen Lösungsversuche, d.h. meine Anstrengung aufzugeben.

Tatsächlich schafft die Anstrengung, d.h. das Ankämpfen gegen etwas, was ich nicht mag, sowie das Festhalten von etwas, was ich mag, erst das Leiden. (Das sagte natürlich schon der Buddha))Und das Fallenlassen dieses positiven oder negativen Wünschens entpuppt sich als die einzige Möglichkeit der Lösung. In der konkreten Erfahrung wird eine Lösung 2. Ordnung oft beschrieben als eine Art Erlaubnis zur Erweiterung des Denkens oder des Wahrnehmens oder des Fühlens oder des Handelns.

Eine Lösung zweiter Ordnung ist immer überraschend. Sie ist neu, sie ist einfach, sie ist befreiend und verändert gleichzeitig das Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln, also den ganzen Menschen. Sie beschränkt sich nicht auf den Kopf, sondern ergreift auch das Herz. Sie beschränkt sich nicht auf die Emotionen, sondern bringt Umdenken und neue Lebensweise mit sich. Und sie wird nicht vom Therapeuten allein erzeugt, sondern sie entsteht im ganzen therapeutischen System.

Das Wort Musterunterbrechung hat im Systemischen einen ähnlichen Stellenwert wie etwa das Fallenlassen im Buddhistischen. Wir Menschen sind fähig, unsere gewohnten Wahrnehmungs- und Denkmuster auch ohne Analyse, ohne ausreichende Begründung loszulassen, uns von ihnen zu lösen. Eine Lösung zweiter Ordnung im systemischen Sinne hat immer etwas von diesem einfachen Sich-Umdrehen und Weggehen an sich. Man spricht in diesem Zusammenhang von Respektlosigkeit, die es erfordert, um die Neugier und Offenheit zu behalten. Das Wort Respektlosigkeit bezieht sich nicht auf die Person unseres Gegenübers, sondern auf seine Gewohnheiten, Anhaftungen. Respekt vor der Person, Respektlosigkeit vor ihren Definitionen von sich selbst, von der Schwere und Tiefe ihres Leidens. Wir sitzen immer wieder der Illusion auf, als hätte die von unseren Klienten vorgetragene Welt eine substanzhafte Existenz außerhalb ihrer selbst und als wäre da die Ursache des Leides zu suchen. Das ist aber eine Illusion, ja sogar die Illusion, eine Konstruktion, die wir uns und anderen immer wieder erzählen, um uns von unserer Unschuld oder Ohnmacht zu überzeugen und unser Verharren im Leid zu rechtfertigen.

Wenn aber negative Gefühle und Probleme, sowie deren körperliche Auswirkungen, Konstruktionen unseres Geistes sind, sind sie keine Substanzen oder Energien von irgend einer Dauer, sondern werden je neu im Geist und in der Kommunikation geschaffen. Also können sie wenn erst einmal erkannt - auch jederzeit fallen gelassen und durch positive Konstruktionen ersetzt werden. Wenn wir nämlich mit den gewohnten Denk- und Klagemustern unseres Gesprächspartners zu lange und zu intensiv mitschwingen und das gilt nicht nur für Therapeutinnen. Wenn wir uns zu lange die Ängste des armen Menschen vor Augen führen oder wie böse doch mit ihm umgesprungen wurde und wie wenig er dafür kann, dann sind wir ganz leicht in die Falle des Mitleids getappt, das der Buddhismus bekanntlich den nahen Feind des Mitgefühls nennt. Wir Familientherapeuten sagen „wir sind ins System gegangen“, indem wir uns den Bedeutungsgebungen des Klienten anschließen und seine so plausible Schilderung und Begründung des Leids zu sehr annehmen. Das hilft ihm nicht. Mitleid bekommt er für gewöhnlich wo anders genug. Wir verraten damit nur das Mitgefühl und die distanzbewahrende Liebe, die notwendig wären.

Wenn wir aber - und das geschieht auf der Basis von Mitleid - mit der Erarbeitung einer positiven Konstruktion, einer neuen Lösung erster Ordnung, die Therapie beenden, dann verschließen wir die Augen davor, dass auch positives Denken, wenn es Lösungen erster Ordnung sind, wieder Denkfixierungen, das heißt Verhaftung und Unfreiheit erzeugen und damit Samenkörner sind für neues Leid. Würden wir systemisch denkenden Therapeutinnen und Nichttherapeutlnnen uns diese Konsequenz klar machen, nämlich, dass es darum geht, die Flexibilität des Geistes zu trainieren, so hätten wir den Schritt über die Schwelle getan, nämlich in eine spirituelle Therapie. Ich für meinen Teil glaube, die systemische Familientherapie - und die anderen Therapieformen auch -, stehen so nahe vor oder auf dieser Schwelle, dass ich keine Möglichkeit mehr sehe, den Schritt zu vermeiden. -Aber es wird schon noch Möglichkeiten geben. Dem menschlichen Geist ist ja alles möglich. Ihm ist noch immer etwas eingefallen sich einzuschränken.

Ich will jetzt auf etwas anderes noch aufmerksam machen, was in der systemischen Therapietheorie eine große Rolle spielt. Da haben die drei Neurophysiologen Maturana, Varela und Uribe jahrelang über die Wahrnehmung von Tieren und Menschen geforscht und herausgefunden, dass wir die äußeren Sinnesreize nur zum Anlass nehmen für unsere Wahrnehmungen und Reaktionen. Zu 90 % werden unsere Wahrnehmungen und Reaktionen von inneren Strukturen bestimmt. Wenn wir eine Billardkugel anstoßen, wird sie vermutlich wegrollen. Wenn wir aber mit demselben Billardstock und der gleichen Kraft einen Vogel anstoßen, der sich auf dem Billardtisch niedergelassen hat, wird er wegfliegen. Welch ein Unterschied, und er erklärt sich aus der Struktur der angestoßenen Gegenstände. Wenn wir einen Menschen anstoßen würden, wäre seine Reaktion vermutlich noch unvorhersehbarer. Wir sind von innen her bestimmt. Wir sind von unserer eigenen, selbst gebauten und durch unser Denken immer wieder erneuerten inneren Struktur her determiniert. Mit unseren Gedanken diagnostizieren wir uns selbst und instruieren uns selbst. Versuche, Menschen von außen zu instruieren und zu intervenieren, sind also illusorisch. Und das heißt doch, wir sind für alles selbst verantwortlich, für das, was wir denken und für das, was wir wahrnehmen. Eine uralte religiöse Wahrheit neu entdeckt. „Ich bin der Eigentümer und der Erbe meines Karmas“ könnte man dafür auch sagen. Oder. „Was du säst, wirst du auch ernten."

Was schließen daraus die Therapeuten? Zunächst ist die Einsicht, dass es keine instruktive Intervention für eine Helferin oder Therapeutin geben kann, für die meisten, wenn nicht alle therapeutischen Schulen ein Schock, weil sie die Hälfte ihrer Interventionstheorien damit revidieren müssen.

Ich möchte mich aber hier mit den Therapeutinnen beschäftigen, die sich dieser Einsicht zu stellen versuchen. Diese TherapeutInnen denken natürlich nicht zuerst an sich selbst, sondern an ihre Klienten. Und sie schließen ganz zu Recht, dass sie da gar nicht so viel machen können, wie sie immer geglaubt haben, wenn alle Veränderung, alle Heilung nur von innen her kommen kann. Und damit sind sie nun doch bei sich selbst angekommen, nämlich, dass die angemessene Haltung für einen Therapeuten, eine Therapeutin die Haltung der Bescheidenheit und der Demut wäre. Natürlich ist das auch nicht so leicht, und schon gar nicht von außen her zu bewerkstelligen. Und doch gibt es bei vielen das Bemühen um diese Haltung, besser gesagt, viele fühlen sich von dieser Theorie bestätigt und bestärkt in ihrem inneren Wissen um diese Wahrheit und beginnen sie wieder zu üben. In ihrer Praxis und in der Meditation.

Was ist aber dann Therapie? Wie ist Hilfe überhaupt möglich, wenn jeder nur seine eigenen Geschichten zelebriert, ausbadet oder neu erfindet? Natürlich verfallen wir Therapeutinnen da auf viele Tricks, uns wieder nützlich zu machen, oder zumindest unsere Nützlichkeit theoretisch zu untermauern. Wir wollen je schließlich was verkaufen. Aber ehrlicherweise haben wir „nur“ unsere Fähigkeit zu Mitgefühl und Nicht-Eingreifen anzubieten. Eine Haltung, die heutzutage nicht gerade gefragt ist. Das ~Tun des Nichttuns" nannte das Lao-Tse und die Bhagavadgita. Oder ins therapeutische Deutsch übersetzt: Die angebotenen Kommunikationsmuster, Konditionierungen und Denkweisen nicht mitmachen, ohne Bewertung, ohne Urteil; dissoziiert und doch mit ganzer Achtsamkeit anwesend sein. Vielleicht ist das das Heilsame an der Therapie: Wenn wir sozusagen dem Menschen, der leidet, stellvertretend eine zeitlang den Zeugen zur Verfügung stellen.

Schließlich, wenn jemand leidet, ist er mit dem Zustand seines Leidens identifiziert, hat also seine Fähigkeiten zu Humor und Abstandnahme kurz- oder langfristig in den Urlaub geschickt oder in den Keller gesperrt. Wir vertreten also dieses dispensierte Beobachterbewusstsein und lassen uns, wenn möglich, auch in unseren verbalen und nonverbalen Reaktionen, nicht in Bewertungen, Fixierungen und alte Muster hineinziehen. Dies geschieht am besten über das Gefühl der bedingungslosen Liebe, d.h. der nicht anhaftenden, nicht an einem Resultat interessierten Liebe. Ein Gefühls- und Geisteszustand, der in Kontakt bleibt und Raum lässt; eine Haltung, die Liebe mit Neutralität und Respektlosigkeit verbindet. So ist es unser tägliches Brot, den Prozess der Kreation einer Leidenswelt in einem System mitzuerleben, und dabei die Heiterkeit zu bewahren.

Um es nicht zu vergessen, möchte ich nun darauf zurückkommen, dass die erste grundlegendste Einsicht der systemischen Familientherapie etwas ist, was auch im Buddhismus wesentlich ist: Der kybernetische Systembegriff, nämlich die Tatsache, dass in einem System alles mit allem in Wechselwirkung steht. Auf das System Welt angewandt bedeutet das: Es gibt keine gesonderten Dinge, mit einem aus sich selbst bestehenden Sein. Alles, was existiert, steht in Wechselwirkung zu einander bzw. ist Wechselwirkung. Auch der Bedeutungskontext, nach dem wir leben, unser Glaubens- und Denksystem und die Welt, in der wir leben, sind voneinander abhängig und verändern sich in Abhängigkeit voneinander. Viele Familientherapeuten sind sich nicht im Klaren über die philosophische Tragweite und spirituelle Konsequenz dieser Einsicht, doch ihre Anwendung auf die Pathologie war der Beginn der Familientherapie. Ein Symptom, z.B. eine Depression, wurde nicht mehr als ein innerpsychisches 'Phänomen gesehen, sondern als Ausdruck oder Ergebnis eines Wechselwirkungsprozesses, an dem alle im betreffenden Problem-System beteiligt sind und das alle durch ihr Denken, Fühlen und Tun immer wieder neu kreieren. Dass diese Sicht konsequenterweise auch die Idee eines abgegrenzten und kontinuierlichen Ich angreift, ist vielen noch nicht bewusst geworden. Immerhin sehen sich systemische FamilientherapeutInnen nicht mehr dem leidenden System gegenüber - hier Behandelnder dort Behandelte - sondern fühlen sich mit ihnen eins im „therapeutischen System“. Sie haben damit die Einsicht aufgenommen, dass es keine Beobachterobjektivität gibt, die ja in der Neuzeit durch die Quantentheorie wieder ins Bewusstsein gerufen wurde. Und aus dieser Einsicht der wechselseitigen Bezogenheit ergibt sich Mitgefühl oder Verwicklung. Heilsam und therapeutisch wirksam ist es aus dieser Sicht, sich dem Strom des Ganzen hinzugeben, sich nicht zu sehr abzugrenzen, zu definieren oder Widerstand zu leisten, um sich zu profilieren. Das meint eine tiefe geistige Umstellung, nicht eine oberflächliche Anpassung, die ja meist im Dienste der Ich-Profilierung geschieht. Ich-Hingabe bedeutet vielmehr eine essentielle Kritik an der herrschenden Ideologie der Selbstverwirklichung. Ich verstehe die Forderung Jesu, sich selbst zu verleugnen, als die gleiche wie die des Buddhas nach dem Aufgeben eines räumlich abgegrenzten und zeitlich kontinuierlichen Ich-Begriffs. Ich zitiere den buddhistischen Wissenschaftler Hayward, der in seinem Buch „Die Erforschung der Innenwelt" weitgehende Übereinstimmung zwischen der buddhistischen Wahrnehmungslehre einerseits und der Quantenphysik sowie der psychologischen Kognitionswissenschaft andererseits findet: „Eben weil unsere Erfahrung diskontinuierlich ist, und eben weil es keine gleich bleibende 'Person' hinter den wechselnden Augenblicks-Erfahrungen gibt, haben wir eine Chance, die Gewohnheitsmuster aufzubrechen" (88). Hier also formuliert ein Buddhist die eigentliche Begründung für die Möglichkeit therapeutischer Veränderung. Dass es um das Aufbrechen von Gewohnheitsmustern geht, haben wir im systemischen Diskurs inzwischen herausgefunden. Dass die Möglichkeit für dieses Aufbrechen in illusorischen Charakter aller Kontinuität, aller Substanz liegt, das können wir uns vom Buddha sagen lassen.

Gregory Bateson hat schon mit der Abkehr vom Gedanken der Substanz begonnen, indem er die von uns wahrgenommene Welt als Ausdruck der Unterscheidungsleistung des Geistes bezeichnete. Das letzte Ergebnis dieser Überlegungen ist das Buch „Laws of Form“ von George Spencer-Brown, das endlich die enge Beziehung dieses Denkens zum Buddhismus aufdeckt. Es untersucht das erste Skanda der Form als den fundamentalen schöpferischen Akt des Geistes: Das Setzen einer Unterscheidung zwischen Innen und Außen, Jetzt und Nicht-Jetzt, Ich und Nicht-Ich und damit die Grundlage aller Wahrnehmung und allen Denkens.

Ich wollte mit Ihnen sprechen über die Gedanken, die sich die systemischen Familientherapeutlnnen gemacht haben, über den Vorgang des Anhaftens, der mittels der Konstruktion eines abgegrenzten „Ich“ Leid erzeugt, und den des Nicht-Anhaftens, der dem Leid die Grundlage entzieht. Und wie man sich in der konkreten Therapie dem Nicht-Anhaften zu nähern versucht. Es fehlt dabei vielleicht noch ein wesentlicher Punkt: Wir fragen uns bei jedem Problem oder Symptom, über das die Leute klagen kommen, welchen Sinn hat dies im ganzen System? Und so würdigen wir die Energie, die dabei zum Ausdruck kommt und erleichtern es den Beteiligten, die Verantwortung zu übernehmen. Für etwas Sinnvolles kann man leichter Verantwortung übernehmen als für etwas Sinnloses. Es entsteht wieder Selbstwertgefühl, und das ist nach meiner Lehrerin Virginia Satir die Grundlage für menschliches Wachstum, für Einsicht und Befreiung. Damit kommen wir wieder darauf zurück, wie wichtig das Selbstwertgefühl und die Heiterkeit der Therapeutin bei diesem gemeinsamen Prozess der Befreiung sind, den wir Therapie nennen.

Ich habe bei Chögyam Trungpa Rinpoche gelesen: „Meditation schafft einen Raum, in dem wir unsere neurotischen Spiele und Selbsttäuschungen, unsere verborgenen Ängste und Hoffnungen enthüllen und auflösen können. Durch die einfache Disziplin des Nicht-Tuns schaffen wir diesen Raum.“ Man könnte diesen Satz auch direkt auf die therapeutische Situation übertragen. Er würde dann heißen: „Therapie schafft einen Raum, in dem wir unsere neurotischen Spiele und Selbsttäuschungen, unsere verborgenen Ängste und Hoffnungen enthüllen und auflösen können. Durch die einfache Disziplin des Nicht-Tuns des Therapeuten schaffen wir diesen Raum.“ Heilung ist ein autopoietischer Akt, sie geschieht ganz von innen, ganz von Selbst. Ich bin nicht im Weg gestanden und doch bin ich ganz dabei gewesen. Das einzige, was als Handlung bezeichnet werden kann, ist das Aufgeben des Widerstands des Egoismus. Und wenn wir Therapeutinnen immer wieder erleben und erlebbar machen wie heilsam diese Lösung zweiter Ordnung, die Hingabe des Ich ist, kann es vielleicht allmählich (oder auch plötzlich) zu einem totalen Perspektivenwechsel kommen.



Literatur

> Bateson, Gregory (1981): Ökologie des Geistes. Frankfurt; English: Steps to an ecology of mind. New York 1972

> Essen, Siegfried (1990): Vom Problemsystem zum Ressourcensystem. In: Brunner, Greitemeyer (Hrsg.): Die Therapeutenpersönlichkeit (Wildberg) S. 78-85

> Hayward, Jeremy W. (1987): Die Erforschung der Innenwelt. Bern 1990; Englisch: Shifting Worlds, Changing Minds

> Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (1987): Der Baum der Erkenntnis (Scherz)

> Spencer-Brown, George (1969): „Lows of Form“ London

> Trungpa, Chögyam (1989): Der Mythos von der Freiheit (Theseus)

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